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Presse

23.05.2012 - PHOTONEWS BLOGBUCH

Aryan Mirfendereski. I Love Shanghai

Natürlich sprechen einige gewichtige Gründe für Fotobuch-Apps, allerdings überzeugen mich die Inhalte und Form in den allermeisten Fällen nicht. Zwar können vergriffene und hochgehandelte Bücher in dieser Weise wieder verfügbar gemacht werden. Auch gut, dass sich gerade für Debütanten eine kostengünstige Alternative zu der zumeist selbstfinanzierten Druckvariante bietet. Während das Lesegerät bei Texten fest in meinem Alltag verankert ist, goutiere ich Fotobücher lieber in der herkömmlichen Form. Eigentlich will ich das digitale Fotobuch interessant finden, erkenne auch das innewohnende Potential dieses noch jungen Mediums, aber es lässt mich kalt. Vielleicht hab ich nur noch nicht die Bekanntschaft mit der richtigen App gemacht. Als ich dann aber „I Love Shanghai“ von Aryan Mirfendereski aus der MagBook-Reihe von Andreas Magdanz, betrachte, pulverisiert sich jegliche Gleichgültigkeit. Es ist so: Das Buch bläst mich beim Betrachten einfach weg.

Der Fotograf, eigentlich ein angehender Architekt aus Aachen, ergattert einen Job während der Expo 2010 in Shanghai, bei dem er die technischen Abläufe eines Pavillons zu beaufsichtigen hat. Die Aufgabe lässt ihm genügend Zeit, immer wieder durch die Megastadt mit ihren 21 Millionen Einwohnern zu flanieren. Doch Flanieren ist nicht der richtige Ausdruck, alles scheint hier zu fließen, die Stadt stellt eine einzige große Bewegung dar, auch wenn der Autoverkehr immer wieder kollabiert. Als Betrachter hat man das Gefühl, dass Mirfendereski sich im unfassbaren Gewimmel der dynamischen Megastadt mitspülen lässt, immer bemüht, darin nicht unterzugehen. Zum Verweilen bleibt kaum Zeit.

Keine Wirtschaftskrise kann der chinesischen Stadt der Superlative Einhalt im exzessiven Urbanisierungsprozess gebieten. Es ist eine Stadt zum schwindelig werden, deren Antlitz sich jeden Tag aufs Neue ändert. Tausende von Hochhäusern versperren den Blick auf den Horizont. In horrendem Tempo drängeln sich immer neue Reihen von Büro- und Wohnmaschinen dazu, durchzogen von den Schneisen kilometerlanger Brücken, Tunnel und vielspuriger Hochautobahnen. Für Sentimentalitäten bleibt keine Zeit. Dort, wo jetzt die futuristisch anmutenden Bauten des Expogeländes erstrahlen, muss zuvor ein ganzer Stadtteil weichen, tausende Familien werden umgesiedelt. Doch wie kann man eine Stadt, die sich in einem immer währenden Modernisierungsrausch befindet, die stets am Rand der Implosion steht, am besten fotografisch erfassen? Wie findet Mirfendereski eine Form, sich der Megalomanie der Stadt zu nähern, ohne daran zu scheitern? Er erschafft ein virtuelles Buch, das über 400 Seiten dick ist und in seiner Ausführlichkeit wahrscheinlich nie den Hauch einer Chance gehabt hätte, in irgendeinem Fotobuchverlag publiziert zu werden. Doch hier können die Möglichkeiten, ein breites Panorama der Stadt zu entwerfen und eine Fülle von Einzelgeschichten zu erzählen, vollständig ausgeschöpft werden. Mit der Vielzahl der Fotos schafft Mirfendereski einen schier endlosen Erzählstrom. Seine Arbeit zeigt klug und virtuos die verschiedensten Perspektiven auf die Stadt auf, eine Übermenge an Schauplätzen, Themen und Motiven wird aufgefahren, um das (geordnete) Chaos entsprechend zu spiegeln, den Betrachter in Verwirrung zu stürzen und ihn schließlich doch bestimmte Muster erkennen zu lassen.

Die Kamera scheint dem Architekten eine Möglichkeit, seinen „Lost in Translation“-Moment, wie er in der Einleitung beschreibt, zu überwinden. Einen fremden Sprach- und Kulturraum zu entern, sich zu orientieren, die Flut der Sinneseindrücke zu verarbeiten – mit der Fotografie ist dem Europäer das richtige Mittel anheimgegeben, die chinesische Megacity zu erkunden. Das exzessive Fotografieren wirkt wie ein Streben nach Einssein mit jener fremden Welt. Tages- und Nachtlicht, leere Straßen und Orten pulsierenden Lebens, Straßensicht und Vogelperspektive. Erhabener Blick und Zoom-Ansicht. Das Durchstreifen der Horizontalen und Vertikalen der Stadt. In den Himmel geschraubte High-Tech-Bauten und düstere, übriggebliebene Wohnhöhlen des alten Chinas. Tumultartige Expo-Szenen aus dem temporären Herzzentrum der Stadt und rurale Alltagsmomente in den autonomen Provinzen des Südens. Vibrierende Farbfotografie und ruhiges Schwarzweiß.

Das Buch ist von unzähligen Dichotomien bestimmt. Mirfendereski bewegt sich entlang der Hauptachsen der Stadt, oftmals zeigt er Panoramen über mehrere Seiten, fügt Kartenausschnitte zu, die eine ungefähre Orientierung bieten sollen. Als Betrachter wischt man sich in einem ersten Durchgang durch die Bilderflut, immer schneller und schneller, kein Innehalten – eine Gefühlsmechanik stellt sich ein, die gleichermaßen von Faszination und Beklemmung bestimmt ist.

Doch die vielen Szenen des Buches sind Mirfendereski längst noch nicht genug. Die Einzelaufnahmen fangen die ungeheure Dynamik der Stadt für den Autor nur unzureichend ein. So macht er mit seiner Kamera bis zu 500 Aufnahmen von Motiven, die er schließlich zu einzelnen filmischen Szenen rendert. Die unterschiedlichen Sequenzen werden mit einem hektischen Elektrosound versehen, den ein Freund eigens dafür komponiert hat und der das Geschehen der Stadt kongenial übersetzt. Heraus kommt ein grandioser Timelapse-Film, der sich aus 10.000 einzelnen Aufnahmen zusammensetzt und nicht nur irgendwelches Bonus-Material darstellt, sondern eine konsequente Fortführung der im Buch aufbereiteten Inhalte darstellt. Abgebildet wird eine Stadt, die niemals ruht. Aufreibend und aufregend zugleich. Mirfendereski findet schließlich eine Ausdrucksform, um der Komplexität dieser Stadt beizukommen. Für den Betrachter bedeutet diese Arbeit eine einzige Überwältigungsästhetik. Peter Lindhorst

Aryan Mirfendereski. I Love Shanghai. 400 S. Englischer Text. MagBooks 2012. Download via iTunes, € 3,99